Die Ausgangslage: Wenn Regulierung zur Innovationstreiberin wird
Ein etablierter Managed Service Provider im deutschen Gesundheitssektor stand vor einer komplexen Herausforderung. Das Unternehmen betreibt seit Jahren ein AI-gestütztes Service Desk-System für einen Gesundheitsdienstleister und verarbeitet dabei hochsensible Gesundheitsdaten. Der ursprüngliche MVP war auf der Infrastruktur eines führenden US-Hyperscalers aufgebaut – eine pragmatische Entscheidung in der Prototyping-Phase.
Doch mit der bevorstehenden Einführung neuer digitaler Gesundheitsplattformen und den verschärften Anforderungen des EU AI Act wurde klar: Der Produktivbetrieb eines High-Risk AI-Systems in einer US-Cloud ist keine zukunftsfähige Option mehr.
Die zentrale Herausforderung: Migration von einem funktionierenden US-Cloud-MVP zu einer EU AI Act-konformen, datensouveränen Lösung – ohne Service-Unterbrechung und mit Go-Live-Target Sommer 2026.
Der Use Case: AI-gestützte Ticketbearbeitung im Healthcare-Kontext
Das System unterstützt Service Desk-Agenten bei der Bearbeitung steigender Anfragevolumen durch mehrere KI-Funktionen:
Kernfunktionalitäten:
- Knowledge Base Abfragen – RAG-basierte Suche in strukturierten Lösungsdatenbanken
- Anliegen Zusammenfassen – Automatische Textzusammenfassung eingehender E-Mails
- PII-Entfernung – DSGVO-konforme Anonymisierung personenbezogener Gesundheitsdaten
- Sentimentanalyse – Emotionale Einordnung von Kundenanfragen zur Priorisierung
- Audio-Transkription – Sprach-zu-Text für telefonische Anfragen
Die technische Herausforderung: Das System ist tief in ein bestehendes Enterprise-Workflow-Management-System integriert. Diese Integration stellt das größte Migrationsrisiko dar.
Die regulatorische Komplexität: Als High-Risk AI-System im Healthcare-Bereich unterliegt die Lösung umfassenden Compliance-Anforderungen (EU AI Act Art. 9-15, DSGVO, SGB V).
Meine Rolle: Business-to-Tech Translation in einer kritischen Transformationsphase
Nach dem Weggang des bisherigen technischen Partners übernahm ich die Rolle als strategischer Berater mit dem Fokus auf Business-Tech-Translation. Meine Aufgabe war es, die Lücke zwischen Geschäftsanforderungen, regulatorischen Vorgaben und technischer Umsetzbarkeit zu schließen.
Konkret umfasste meine Beratung:
1. Strategische Analyse & Risk Assessment
- Systematische Evaluierung der Migrationsoptionen (europäischer Cloud-Provider vs. Alternativen)
- Identifikation kritischer Erfolgsfaktoren und technischer Blocker
- Erstellung einer priorisierten Requirements Matrix
- Gap-Analyse zwischen US-Cloud-MVP und EU-Zielplattform
2. Stakeholder Management & Alignment
- Übersetzung technischer Komplexität in geschäftsrelevante Entscheidungsgrundlagen
- Koordination zwischen IT-Operations, Compliance, und Business Development
- Sicherstellung gemeinsamen Verständnisses über Risiken und Trade-offs
3. Compliance & Regulatory Roadmapping
- Strukturierung der EU AI Act Compliance-Anforderungen
- Integration von DSGVO-Anforderungen in die technische Architektur
- Entwicklung einer Conformity Assessment-Roadmap
4. Partnerstrategie & Vendor Management
- Evaluierung technischer Umsetzungspartner
- Definition von Verantwortlichkeiten und Schnittstellen
- Aufbau einer tragfähigen Governance-Struktur
Die besondere Herausforderung: Als Berater ohne vollständiges technisches Delivery-Team musste ich eine Partnerstrategie entwickeln, die meine strategische Beratung mit der notwendigen technischen Umsetzungskompetenz kombiniert.
Die zentrale strategische Frage: Buy vs. Build?
An diesem Punkt steht das Projekt vor einer fundamentalen Entscheidung, die die weitere Projektrichtung bestimmt:
Option 1: BUY – Enterprise-Plattform
Das Versprechen:
- Fertige, enterprise-ready AI-Agent-Plattform
- Schnelle Implementierung (Wochen statt Monate)
- Integrierte Compliance-Features und EU AI Act-Readiness
- Minimales technisches Risiko durch bewährte Lösung
- Professioneller Support und Wartung
Die Trade-offs:
- Höhere laufende Lizenzkosten
- Eingeschränkte Anpassungsfähigkeit an spezifische Anforderungen
- Vendor Lock-in mit einer proprietären Plattform
- Möglicherweise "Overengineered" für den konkreten Use Case
Strategische Passung: Ideal, wenn Time-to-Market kritisch ist und das Budget für Premium-Lösung vorhanden ist. Enterprise-Plattformen positionieren sich explizit als "Compose"-Ansatz zwischen Build und Buy – mit starkem Fokus auf Geschwindigkeit und Enterprise-Readiness.
Option 2: BUILD – Maßgeschneiderte Lösung mit technischem Partner
Das Versprechen:
- Maximale Flexibilität und Kontrolle über Architektur
- Kostenoptimierung durch Open-Source-Komponenten und moderne LLM-Modelle
- Europäischer Cloud-Provider-Vorteil: Deutsche/EU-Rechenzentren, günstigere Compute-Kosten
- Volle Ownership und keine langfristigen Lizenzabhängigkeiten
Die Trade-offs:
- Höherer initialer Entwicklungsaufwand
- Verantwortung für EU AI Act-Compliance liegt vollständig beim Auftraggeber
- Komplexeres Vendor-Management (Cloud-Provider, Entwicklerpartner, Integratoren)
- Längere Time-to-Market
Strategische Passung: Richtig, wenn langfristige Kostenkontrolle wichtiger ist als Geschwindigkeit, wenn spezifische Anforderungen existieren, die Standard-Lösungen nicht abdecken, und wenn internes Know-how aufgebaut werden soll.
Die entscheidenden Bewertungskriterien
Bei meiner Analyse habe ich folgende Dimensionen als entscheidungsrelevant identifiziert:
1. Integration mit bestehendem Workflow-System (HÖCHSTES RISIKO)
Die bestehende Workflow-Integration ist mission-critical. Beide Optionen müssen hier gleichermaßen validiert werden durch:
- API-Kompatibilitätsprüfung
- Proof of Concept mit echten Daten
- Performance-Benchmarking
Strategische Empfehlung: Unabhängig von Buy/Build – sofortiger PoC für Integration.
2. EU AI Act Compliance-Readiness
Als High-Risk System im Healthcare:
- Enterprise-Plattform: Verspricht "out-of-the-box" Compliance-Unterstützung
- Build: Erfordert eigene Conformity Assessment-Struktur
Strategische Empfehlung: TCO muss Compliance-Kosten inkludieren (bei Build: externes Compliance-Consulting, bei Buy: eingepreist).
3. Time-to-Market vs. Total Cost of Ownership
- Enterprise-Plattform: Schneller, aber höhere Jahreskosten (3-5 Jahre Betrachtung)
- Build: Länger, aber niedrigere laufende Kosten
Strategische Empfehlung: 3-Jahres-TCO-Modell mit Sensitivitätsanalyse für verschiedene Szenarien.
4. Datensouveränität & Vendor-Risiko
- Enterprise-Plattform: Erfüllt EU-Anforderungen, aber zusätzliche Vendor-Abhängigkeit
- Europäischer Cloud-Provider: Deutsche/EU-Infrastruktur, aber mehr Self-Service-Verantwortung
Strategische Empfehlung: Exit-Strategy für beide Szenarien entwickeln.
Mein strategischer Beratungsansatz: Decision Framework statt Silver Bullet
Als strategischer Berater empfehle ich keinen "One-Size-Fits-All"-Ansatz, sondern einen strukturierten Entscheidungsprozess:
Phase 1: Rapid Technical Validation (4 Wochen)
- Parallel-PoCs: Sowohl Enterprise-Plattform als auch Build-Option mit Workflow-System-Integration testen
- Kostentransparenz: Detaillierte 3-Jahres-TCO für beide Optionen
- Compliance-Audit: EU AI Act-Gap-Analyse für beide Szenarien
Phase 2: Business Case & Risk Assessment (2 Wochen)
- Quantifizierung der Time-to-Market-Auswirkungen
- Bewertung interner Ressourcen und Know-how-Gaps
- Vendor-Risk-Assessment
Phase 3: Strategische Entscheidung & Partner Setup (2 Wochen)
- Datenbasierte Go/No-Go-Entscheidung
- Bei Build: Technischer Umsetzungspartner-Auswahl
- Bei Buy: Vertragsverhandlung und Implementation Roadmap
Lessons Learned: Was ich als Strategieberater aus diesem Projekt mitnehme
1. Integration schlägt Innovation
Die beste KI-Lösung nützt nichts, wenn sie nicht mit bestehenden Systemen zusammenarbeitet. Legacy-Integration ist oft der kritische Pfad – nicht die KI-Technologie selbst.
2. Compliance ist Wettbewerbsvorteil
Im Healthcare-Kontext ist EU AI Act-Readiness kein "Nice-to-have", sondern ein Markteintritts-Kriterium. Anbieter, die das verstehen, haben einen strategischen Vorteil.
3. Buy vs. Build ist nicht binär
Die Zukunft liegt in Hybrid-Ansätzen: Managed Platforms mit Custom-Extensions. Moderne Enterprise-Plattformen reflektieren diese Realität mit "Compose"-Ansätzen.
4. Die Rolle des Strategy-Consultants neu definieren
In AI-Projekten reicht klassische Strategieberatung nicht. Man muss:
- Technische Machbarkeit einschätzen können (ohne selbst Developer zu sein)
- Regulatorische Anforderungen in Architektur übersetzen
- Vendor-Ökosysteme orchestrieren
Fazit: Strategische Orchestrierung in komplexen AI-Migrationen
Dieses Projekt zeigt exemplarisch, wie AI-Transformationen im regulierten Umfeld strategische Beratung neu definieren. Es geht nicht mehr nur um Business-Strategy oder Change Management – sondern um die Fähigkeit, zwischen Business, Technologie, Compliance und Vendor-Landschaft zu übersetzen.
Die Buy-vs.-Build-Entscheidung wird dabei zum Katalysator für fundamentale Fragen:
- Wie viel technische Souveränität brauchen wir langfristig?
- Welche Capabilities bauen wir intern auf, welche kaufen wir ein?
- Wie balancieren wir Speed vs. Control?
Meine Rolle als strategischer Berater war es, diese Fragen zu strukturieren, Optionen transparent zu machen und einen faktenbasierten Entscheidungsprozess zu orchestrieren – ohne dabei die Verantwortung für die finale Entscheidung zu übernehmen, die beim Kunden liegt.
Die Reise geht weiter: Bis Sommer 2026 wird sich zeigen, ob Buy oder Build der richtige Weg war. Was bereits jetzt feststeht: Die Qualität der strategischen Vorbereitung wird entscheidend für den Projekterfolg sein.